Gebunden, 48 Seiten, St. Gertrude Verlag, 2007

Gebunden, 48 Seiten, St. Gertrude Verlag, 2007

 

Manfred Osten

Im Kerngehäuse

Gedichte von Manfred Osten

Wortwandlungen von Jürgen Brodwolf

Mit einem Vorwort von Dietrich Fischer-Dieskau und einer Wortweisung von Jürgen Brodwolf

DIETRICH FISCHER-DIESKAU

Im Kerngehäuse

Die vielleicht heiterste und bündigste Handlungsanweisung für den, der Gedichte schreibt, findet sich in Goethes Spruchdichtung Zahme Xenien. Die Empfehlung lautet:

Willst du dich als Dichter erweisen

So musst du nicht Helden noch Hirten preisen

Hier ist Rhodos!

Tanze, du Wicht

Und der Gelegenheit schaff ein Gedicht.

Dieses Verdikt des in Asien als »Konfuzius von Weimar« bezeichneten Dichters hat vor allem im Land der aufgehenden Sonne und der Haikus Karriere gemacht. Denn das dichterische Ergreifen der Gelegenheit gehört in Japan seit Jahrhunderten zur lyrischen Praxis und fügt sich dort in die wohl bedeutendste Rezeption, die Goethes Werk in irgendeiner Nation je gefunden hat.

Als ich Ende der 80er Jahre Manfred Osten in Japan begegnete, hatte er sich bereits mit dieser Welt der japanischen Gelegenheitsdichtung vertraut gemacht. Tokyo wurde damals auch zur Gelegenheit für uns beide, eine Freundschaft zu begründen, zu einer Zeit, in der Manfred Osten begann, mit den bekanntesten Dichtern Japans Gespräche zu führen, um diese dann als literarische Porträts in Deutschland zu veröffentlichen. Die jetzt hier versammelten Gedichte sind daher nicht zuletzt den Einsichten in die lyrische Praxis Japans geschuldet. Sie folgen nach fast fünfzehnjähriger Pause dem ersten Gedichtband und werden diesmal begleitet von den malerisch verdichteten Figuren-Chiffren des mit zahlreichen Preisen und unzähligen Ausstellungen geehrten Künstlers Jürgen Brodwolf.

Die Gedichte empfinde ich als archimedische Punkte im ständig sich beschleunigenden Zeitstrom unseres Jahrhunderts. Sie gehorchen dem Augenblick und zeugen von einem Gegenwärtig-Sein, in welchem die Herkunft mit der Zukunft verschwistert ist.

JÜRGEN BRODWOLF

Annäherung an Gedichte von Manfred Osten

Als Liebhaber alter Papiere fröne ich dieser Leidenschaft seit meiner Ausbildung zum Zeichner-Lithograph (1946-1950). Als ich 1968 das alte Pfarrhaus in Vogelbach/Südschwarzwald erwerben konnte, fanden sich im Dachspeicher in einer Kiste mehrere Bündel alter Aktenpapiere mit den Handschriften vergangener Schreibergenerationen. Von diesen Aktenpapieren benutzte ich die unbeschriebene Rückseite für Zeichnungen und Aquarelle. Um 1984/85 begann ich die Schriftzeilen und Schriftblöcke auf den beschrifteten Seiten mit Feder und Pinsel zu umfahren und von den unbeschriebenen Flächen abzugrenzen. Es entstand eine Folge von Arbeiten unter dem Titel: »Wie man Wörter wieder in (menschliche) Wesen verwandelt« (»man nehme ein beschriebenes Blatt Papier, umrande die Schriftzeichen mit Umrisslinien und wird dabei feststellen, wie sich daraus menschenähnliche Gebilde ergeben, womit der Beweis erbracht ist, dass Gesprochenes und Geschriebenes immer noch von Menschen stammt«).

Ein Großteil dieser spielerisch entstandenen Blätter verschwanden vorerst in den unteren Schubladen des Zeichenschrankes. Als mir Anfang 2006 Dierk Lemcke seine Idee vortrug, zu einer Publikation mit Gedichten von Manfred Osten das »Bildnerische« beizusteuern, konnte ich das schon wegen meiner Neigung zur Dicht- und Buchkunst nicht ablehnen.

Während der Beschäftigung mit den Gedichten und den ersten bildnerischen Versuchen, bekam ich Probleme von »Distanz oder Annäherung« zu den Gedichten. Meine Versuche und Anfänge kamen ins Stocken, bis ich mich eines Tages an die Blätter mit den umzeichneten Schriftfeldern erinnerte. Das war die Initialzündung.

»Wie man Wörter wieder in (menschliche) Wesen verwandelt«. Also die Schriftzeichen der anonymen Schreiber mit Linien zu Bildern umsetzt, und diese zu den Schriftblöcken des Dichters auf eine Ebene stellt, auf der der betrachtende Leser, - der lesende Betrachter, sein Auge hin und her schwenken kann.

2006 habe ich diese »schriftumzeichneten« Blätter in »Annäherung an Manfred Osten und seine Dichtkunst« mit Papier- und Tubenfiguren versehen, die eine zweite Bildebene schaffen, und gleichsam kontrapunktisch einen Dialog mit den Schriftfiguren und Gedichten führen.

Schrift + Bild

Bild + Schrift