Deutsche Gesellschaft der Humboldtianer (DGH) - Essay zu Humbold

Alexander von Humboldt

„Das Erforschte … nur etwas … in dem verhängnisvollen Lauf der Dinge“

Alexander von Humboldt – Vordenker der Klima-Katastrophe?

Dr. Dr. h.c. Manfred Osten war von 1995 – 2004 Generalsekretär der Alexander von Humboldt-Stiftung. Zuvor war er – nach seinem Studium der Rechtswissenschaften, Philosophie, Musikwissenschaften und Literatur – über 25 Jahre in verschiedenen Funktionen im Auswärtigen Dienst tätig, u.a. im Tschad, Kamerun, Australien und Japan. Dr. Osten ist außerdem durch eine Vielzahl von Publikationen bekannt, vor allem Monographien, Gedicht- und Sammelbände. Seine Kernkompetenzen liegen in der GoetheForschung, der Musikwissenschaft des 19. Jahrhunderts und der europäischen und asiatischen Kulturgeschichte. Zuletzt erschienen: Goethes Prophetie der Welt als „großes Hospital“ – mit einem Nachwort von Peter Sloterdijk (2021: Wallstein Verlag, Göttingen).

Lässt sich Alexander von Humboldt heute verstehen als Pionier eines anderen Fortschritts der Moderne, als Wegbereiter der Bewegung „Fridays for Future“ und deren Unterstützung durch „Science for Future“? Hat er doch in seinen „Ansichten der Natur“ bereits versucht, das Ansehen der Natur zu sichern durch die Total-Empfindung ihres sinnlichen Ansehens durch den Menschen. Humboldts Entwicklung zum bereits global denkenden und handelnden Umwelt-Pionier beginnt jedenfalls mit der „Ausstattung neuer Organe“ durch Goethe. Um schließlich zur alles entscheidenden ganzheitlichen Einsicht in das Betriebsgeheimnis der Natur zu gelangen: „Alles ist Wechselwirkung“. Mit der hieraus resultierenden Einsicht, dass die mit der industriellen Revolution und Kolonisation (u.a. in Lateinamerika) beginnenden massiven Eingriffe in die Natur fatal enden könnten in das, was Humboldt bereits als den „verhängnisvollen Lauf der Dinge“ erkannt hat. Die von ihm initiierte „Humboldt-Kantate“ von Felix Mendelssohn-Bartholdy antizipierte daher nicht zufällig bereits das Szenario einer globalen Klimakatastrophe. Nachdem er mit der Entdeckung der „Isothermen“ bereits selbst die wissenschaftliche Grundlage der Klimatologie geschaffen hatte.

Humboldt hatte sich früh auf den Weg gemacht zur Einsicht in die Möglichkeit eines anthropogenen Klimawandels. Am Anfang steht seine Überzeugung: „Wer die Natur nicht empfindet, sondern nur theoretisch betrachtet, der wird ihr ewig fremd bleiben.“ Eine Fähigkeit des Empfindens, das für ihn resultierte in der Forderung: „Habt Ehrfurcht vor dem Baum, er ist ein einziges großes Wunder … Die Feindschaft gegen den Baum ist ein Zeichen von Minderwertigkeit eines Volkes und von niederer Gesinnung des einzelnen.

Der Baum steht denn auch am Anfang jener bahnbrechenden Studie Humboldts über den Valencia-See, die den Anfang seiner lateinamerikanischen Forschungsreise markiert. In Venezuela im Sommer 1799 erkennt Alexander von Humboldt erstmalig und umfassend die klimatische © Geert Maciejewsk Funktion des Waldes. Er kann hierbei zurückgreifen auf frühere Beobachtungen aus der Zeit seiner Tätigkeit als preußischer Oberbergrat in Franken. In seiner Tagebuchnotiz zum See von Valencia nimmt er darauf ausdrücklich Bezug: „... die Flüsse selbst sind jetzt wasserärmer. Die umliegenden Gebirge sind abgeholzt. Das Gebüsch (monte) fehlt, um die Wasserdünste anzuziehen und den Boden, der sich mit Wasser getränkt, vor schneller Verdampfung zu schützen. Wie die Sonne sich überall frei Verdampfung erregt, können sich nicht Quellen bilden. Unbegreiflich, dass man im heißen, im Winter wasserarmen Amerika so wüthig als in Franken abholzt (desmonta) und Holzund Wassermangel zugleich erregt.“

Humboldt war gleich nach seiner Ankunft in Venezuela auf den zuletzt auffällig gesunkenen Wasserspiegel des Valencia-Sees aufmerksam geworden. Nach intensiven Messungen des Wassers, der Atmosphäre und der an den See grenzenden Flora gelangte er zu einer bis heute aktuellen Erkenntnis: Die elementare Funktion der Wälder für das Klima des Planeten. Die Wälder sind für Humboldt nicht nur das größte Reservoir für das im Boden gespeicherte Wasser. Sie regulieren durch Verdunstung gleichzeitig das, was Humboldt „periodische Regenschauer“ nennt, also die Niederschlagsmenge. Hinzu kommt das, was er als das „Erregen von Kälte“ bezeichnet: die thermische Wirkung der Wälder, „indem sie der Atmosphäre Wärmestoff entziehen, den sie mit Sauerstoff verbunden zurückgeben“. Schließlich verhindern die Wälder „schattengebend die Verdunstung“ und Austrocknung des Bodens.

Bei seinem Versuch einer Reaktivierung der alten Gold- und Silberbergwerke im Fichtelgebirge hatte Humboldt in den Jahren 1792-1795 bereits Gelegenheit gehabt, die Folgen einer überproportionalen Rodung der zum preußischen Fürstentum Ansbach-Bayreuth gehören Wälder zu beobachten. Er entwickelt hierbei den zentralen Gedanken der Nachhaltigkeit für die moderne Ökologie. Die Zerstörung der Natur aufgrund menschlicher Gewinnsucht tritt ihm in Gestalt von Rodungen ohne anschließende Wiederaufforstung vor Augen. Und erkennt die fatalen Folgen für den Wasserhaushalt des Bodens und der Atmosphäre als Konsequenz des ständig wachsenden Holzbedarfs für das Bergwerk- und Hüttenwesen.

Es überrascht daher nicht, dass Humboldts Gedanke der Nachhaltigkeit im 19. Jahrhundert großdimensionierte Wiederaufforstungsmaßnahmen zur Folge hatte: vor allem in Europa, USA und Australien.

Der deutsch-australische Historiker Weigl hat gezeigt, dass auf diese Weise durch Humboldts Klimaforschung das Umweltbewusstsein im 19. Jahrhundert zum ersten Mal in der Geschichte globale Dimensionen gewinnt. Hinzu kommt, dass Humboldt durch seine Erfindung der Isothermen (Linien gleicher Temperaturen) gleichzeitig auch die Grundlage der modernen Klimaforschung entwickelt hat.

Humboldt hat es nicht bei der Einsicht in die anthropogenen Klimafaktoren im Hinblick auf Wälder und Veränderungen der Hydrosphäre belassen. 1845, im ersten Band seines Kosmos, spricht er ausdrücklich von der „Vermengung [der Atmosphäre] mit mehr oder minder schädlichen gasförmigen Exhalationen“. Aber erst im 20. Jahrhundert wird man erstmals über den Zusammenhang zwischen dem – Ende des 19. Jahrhunderts von S. Arrhenius schon vermuteten – Anstieg des Kohlendioxids in der Atmosphäre und der sich allmählich abzeichnenden anthropogenen Klimaveränderung fachwissenschaftlich diskutieren.

Hellsichtig hat Humboldt die Ambivalenz zwischen wissenschaftlich-technischem Fortschritt und der Gefahr wachsender Kollateralschäden antizipiert. Im zweiten Band des Kosmos hat er die gefürchtete Entwicklung mit den Sätzen beschrieben: „Durch den Glanz neuer Entdeckungen angeregt, mit Hoffnungen genährt, deren Täuschung oft spät erst eintritt, wähnt jedes Zeitalter dem Culminationspunkte im Erkennen und Verstehen der Natur nahe gelangt zu sein. Ich bezweifle, dass bei erstem Nachdenken ein solcher Glaube den Genuss der Gegenwart wahrhaft erhöhe. Belebender und der Idee von der großen Bestimmung unseres Geschlechtes angemessener ist die Ueberzeugung, dass der eroberte Besitz nur ein sehr unbeträchtlicher Theil von dem ist, was bei fortschreitender Tätigkeit und gemeinsamer Ausbildung die freie Menschheit in den kommenden Jahrhunderten erringen wird. Jedes Erforschte ist nur eine Stufe zu etwas Höherem in dem verhängnisvollen Laufe der Dinge.“

Eine Einsicht, die ihn offenbar schon 1828 als Präsident der Gesellschaft der Ärzte und Naturforscher beschäftigt hat. Die im September 1828 in Berlin stattfindende internationale Tagung mit über 600 Wissenschaftlern (darunter der Mathematiker Karl Friedrich Gauß und der vom jungen Frédéric Chopin begleitete polnische Zoologe Pawel Jarocki) hatte Humboldt zum Anlass genommen, Felix Mendelssohn-Bartholdy mit einer ungewöhnlichen Aufgabe zu betrauen. Humboldt, der seit seiner Jugend mit dem Hause Mendelssohn in freundschaftlicher Verbindung stand, hatte den 19-jährigen Felix beauftragt, eine Festkantate zu komponieren zu einem Text von Rellstab, der sich inhaltlich offenbar an Vorgaben Humboldts orientierte. Das Ergebnis war eine Komposition, deren Kühnheit und Originalität nur überboten wird durch die Konstanz des öffentlichen Desinteresses an diesem Werk. Eine weitere Aufführung der Kantate, die einer zweiten Uraufführung gleichkam, durch das Leipziger Gewandhausorchester fand erst im Januar 2009 statt! Das Werk ist, genau betrachtet, das Gegenteil einer Festkantate. In der musikalischen Faktur und in der in ihr angelegten Dramaturgie ist sie eher eine singulär frühe Warnung vor möglichen Rachefeldzügen der Natur. Unmittelbar nach dem „Willkommen“ des Begrüßungschors folgt Verstörendes. Im Medium der Kunst wird der Zuhörer unerwartet konfrontiert mit den Horror-Szenarien einer rachsüchtigen Natur. „Die Woge schäumt voll Ingrimm an den Damm“ und „Es bricht der Sturm die mächtigen Blöcke aus dem Lager“. Humboldt lässt seine Kongressteilnehmer jedoch nicht nur die Verheerungen durch Flut- und Sturmkatastrophen musikalisch „erleiden“, er entfesselt auch die Feldzüge des Feuers und die von ihm selbst anhand der Beispiele in Franken und Lateinamerika bereits beschriebenen Verheerungen durch Dürre.

Es sind Warnungen, die der junge Mendelssohn kongenial durch eine in seinen Werken einmalige und völlig ungewöhnliche Instrumentation sinnfällig werden lässt: Durch Weglassen hoher Streichinstrumente (Geigen und Bratschen), hoher Holzbläser (Flöten und Oboen) und der Frauenstimmen. Bevorzugt werden die Pauke sowie durchdringend obertonreiche Blasinstrumente, die klassischen Signalinstrumente Trompeten, Hörner und Klarinetten. Die Schrecken der anthropogenen Klima-Katastrophe erscheinen in der Humboldt-Kantate allerdings nicht isoliert, sondern im Kontext von Therapie-Vorschlägen als künftig zu beachtende Anregungen an die Adresse der Kongressteilnehmer als Repräsentanten der modernen Wissensgesellschaft. Es sind Therapie-Vorschläge, die ausnahmslos den Versuch darstellen, die durch menschliche Eingriffe empfindlich gestörte und von Humboldt erkannte Harmonie und „Wechselwirkung“ der Natur gleichsam durch tätige Reue wieder herzustellen. In diesem Zusammenhang thematisiert die Humboldt-Kantate im 6. Satz ausdrücklich das Problem der Wiederaufforstung.

Die Zeit der Entstehung und ersten Aufführung dieser musikalischen Vorwegnahme der modernen Umweltbewegung koinzidiert auffällig mit zeitgleichen ökologischen Überlegungen des HumboldtBewunderers Goethe. Bei Goethe, dem Humboldt über seine Lateinamerika-Reise wiederholt berichtete, findet sich im zweiten Teil der Faust-Tragödie eine faszinierende Parallele zu den Rachefeldzügen der Natur in der Humboldt-Kantate. Was hier durch den Dammbruch thematisiert wird, ist auch Gegenstand des durch die Sorge erblindeten Faust. Als moderner Kolonisator und global tätiger Unternehmer greift er massiv in die Natur ein, unter anderem, um dem Meer durch Dammbauten Land abzugewinnen. Es ist Mephisto, der hier Umweltkatastrophen mit den Worten prophezeit: „In jeder Art seid ihr verloren; - / Die Elemente sind mit uns verschworen, / Und auf Vernichtung läuft´s hinaus.“ Eine „Vernichtung“ durch die entfesselten „Elemente“, die Mephisto im Lichte von Kollateralschäden des Fortschritts auch ökonomisch als Nullsummenspiel bilanziert: „Was ist daran zu lesen? / Es ist so gut, als wär es nicht gewesen, / Und treibt sich doch im Kreis, als wenn es wäre. / Ich liebe mir dafür das Ewig-Leere.“

Humboldt hatte bereits vor seiner Lateinamerikareise Goethe in Weimar besucht, dessen pantheistischem Naturverständnis er als „Naturforscher“ von Anfang an nahestand. Der für Goethes Natur- und Weltfrömmigkeit zentrale Gedanke des Spinoza „deus sive natura“ (Gleichsetzung von Gott und Natur) hat auch Humboldt beschäftigt. Er hat Goethe 1806 sein Werk Ideen zu einer Physiognomik der Gewächse gewidmet, der seinerseits Humboldt mehr gerühmt hat als irgendeinen anderen Zeitgenossen: „Was ist das für ein Mann! - Ich kenne ihn so lange und doch bin ich von neuem über ihn in Erstaunen. Man kann sagen, er hat an Kenntnissen und lebendigem Wissen nicht seinesgleichen. Und eine Vielseitigkeit, wie sie mir gleichfalls noch nicht vorgekommen ist! Wohin man rührt, er ist überall zu Hause und überschüttet uns mit geistigen Schätzen. Er gleicht einem Brunnen mit vielen Röhren, wo man überall nur Gefäße unterzuhalten braucht und wo es uns immer erquicklich und unerschöpflich entgegenströmt.“