Ein Diplomat der Wörter
In der facettenreichen Landschaft der deutschen Gegenwartslyrik hatte sich Manfred Osten konsequent über Jahre eine besondere Stellung erarbeitet. Bis vor kurzem schätzte man ihn in intellektuellen Kreisen vor allem als einen einfühlsamen Kritiker, der für angesehene Zeitschriften über Kunst und Literatur schrieb. Mit dem 1993 veröffentlichten Lyrikband "Der Baum der Reisenden" sicherte sich Osten auf Anhieb einen festen Platz in der Reihe der begabtesten Lyriker seiner Generation. War er bis jetzt in den eingeweihten Literaturkreisen ein Geheimtip, so machte er die Veröffentlichung seines Buches zum bekannten und in der Öffentlichkeit diskutierten Autor. Manfred Osten ist aber ein nachdenklicher Lyriker geblieben, der mit einer leicht gedämpften Stimme, als wolle er mit ihr den Abgrund der menschlichen Seele ermessen, über Dinge spricht, die sich meistens den Beobachtungen des Alltags entziehen. So wie er haben die Realität die größten deutschen Nachkriegslyriker von Benn, Hu- chel, Eich, Bachmann bis Enzensberger empfunden, selbstverständlich hatte jeder von ihnen anders auf die Realität reagiert, gemäß seiner eigenen Erfahrung und seinem lyrischen Temperament. Auch die Lyrik von Manfred Osten hat ihren individuellen, nur ihm eigenen, unverwechselbaren Ton und Stil entwickelt. In diesem Stil widerspiegeln sich beachtenswerte Fragmente der kulturellen Tradition in Deutschland, wie auch vieles von den Kulturen anderer, oft weit entfernter Völker und Länder. Ein Teil der Sensibilität auf die Weltkultur ist in der Biographie des Dichters zu suchen, ein anderer Teil entspringt seiner natürlichen Weltoffenheit, seinem Bedürfnis nach einem Dialog mit dem Eigenen, mit dem Fremden, mit sich selbst.
Die Biographie von Manfred Osten ist alles andere als schablonartig. Geboren wurde er 1938 in Ludwigslust, in Mecklenburg, in einer Landschaft, in der viele Dichter wie Gottfried Benn, Günter Eich, Peter Huchel und Erich Arendt beheimatet sind. Aber das sind Lyriker einer anderen Generation, gewissermaßen die Vorgänger von Ostens lyrischen Exkursen. In der frühen Jugend des Schriftstellers verließ seine Familie die DDR und zog in den Westen. Seine gymnasiale Ausbildung bekam Manfred Osten im renommierten Internat im Schloss Bad Iburg, unweit von Osnabrück. Die ungewöhnliche Atmosphäre des unheimlichen Ortes hatte sicherlich auch die Phantasie des künftigen Lyrikers angeregt, hier wagte er wohl auch erstmalig, tiefer in die ihn umgebende Wirklichkeit hineinzuschauen. Sehr früh schon, nicht ohne Einfluß der familiären Tradition, begann er sich auch für die Kunst zu interessieren, er spielte verschiedene Instrumente, zeichnete, malte. Stets war er auch bemüht, die Kunst zu verstehen, es verwundert deshalb auch nicht, daß seine Studienfächer zunächst Musikwissenschaft, Philosophie, Literatur wurden, ferner auch Jura, in Hamburg, München, Luxemburg. Seine Doktorarbeit legte er 1969 der Kölner Juristischen Fakultät vor. In seiner Dissertation beschäftigt ihn nicht zufällig der Naturbegriff in den frühen Schriften Schellings.
Parallel zur Herausbildung seines künstlerischen Bewußtseins verlief auch seine glänzende Berufslaufbahn. Nach einer juristischen Referendarzeit in Bayern wechselte er in den diplomatischen Dienst über. Der Beruf eines Diplomaten bot ihm neben seinen politischen Aktivitäten auch die außergewöhnliche Möglichkeit, die breite Welt und fremde Völker kennenzulernen. Als angesehener Diplomat blieb er zugleich ein Dichter unterwegs, ein aufmerksamer Betrachter fremder Länder, ein sensibler Räsoneur ihrer kulturellen Vielfältigkeit. Seine Tätigkeit im Außendienst führte Osten in so manches, für einen Europäer, exotisches Land, er arbeitete in Kamerun, Tschad, Australien, auch in Ungarn, besonders intensiv erlebte er aber seinen Aufenthalt in Japan. Die Begegnung mit der Kultur und Philosophie des fernen Ostens wurde für den Lyriker zu einer fundamentalen Erfahrung, die für sein literarisches Weltbild ebenso wichtig wie seine tiefe Verwurzelung in der deutschen Kulturtradition zu sein scheint. Im Schnittpunkt der beiden Grunderfahrungen entstehen Manfred Ostens lyrische Grenzgänge, sie sind als sublimierte Reaktionen eines einfühlsamen Begleiters der kulturellen Entwicklung in der modernen Welt zu lesen.
Der Gedichtband "Der Baum der Reisenden" ist aber auch als ein intimes Tagebuch eines um das Schicksal der Welt bekümmerten lyrischen Denkers zu sehen. Manfred Osten baut seine lyrischen Gebilde aus der Musik und Bildkraft der Wörter. In ihrer prägnanten ästhetischen Struktur sind das scharf kalkulierte, in Wort gefasste Mitteilungen, die, von aphoristischen Inspirationen ausgehend, in die Tiefe der Semantik hinführen, um dort mythische und philosophische Antworten auf aktuelle und existentielle Fragen zu ergründen. Seine Gedichte sind wie aufblühende Poeme, sie setzen sich aus aufeinander geschichteten Ebenen von Erfahrungen, Gefühlen und Überlegungen zusammen, all das wird durch die Biographie und die individuelle Lebensphilosophie des Autors künstlerisch bekräftigt und bestätigt. Dieses Nachdenken über ein beobachtetes Detail, um das glänzende Formulierungen und Metaphern aufgebaut werden, das Entgegenkommen den im Unterbewusstsein verankerten Wunschträumen, all das sind gehaltliche und ästhetische Anzeichen des lyrischen Talents Manfred Ostens.
Man kann diese Gedichte auch wie eine lyrische Biographie des Autors lesen, dann entdecken wir mühelos ihre Schlüsselerlebnisse, in Wörter gefassten Illuminationen, um sich eines aus der Mode geratenen Begriffs von Walter Benjamin zu bedienen. Das Verhältnis zur Kunst, zur Natur, zum Menschen, zur Metaphysik und schließlich zur eigenen Sensibilität, das sind die durchgehenden Motive der Lyrik von Manfred Osten, die im Gedichtband "Der Baum der Reisenden", wahrscheinlich nach den Ratschlägen von Ostens Freund, Peter Handke, so aneinander gereiht werden, daß der Leser die wachsenden Faszinationen des Autors über das Wort, über den Ton und über die Bilder der Gedichte nachvollziehen kann.
In der eigenartigen Lesbarkeit der inneren Welt von Manfred Osten sind besonders die Illustrationen von Horst Janssen, einem anerkannten Hamburger Maler und Freund des Dichters, behilflich. Osten selbst hatte sich schon seit längerer Zeit für die Kunst Janssens interessiert. Er begleitete Janssens Ausstellungen und Kataloge mit instruktiven Kommentaren, in denen er die Bilder und Gedanken des Künstlers dechiffrierte. In der Tat haben Janssen und Osten viel Gemeinsames, sie empfinden ähnlich die Wirklichkeit, sie interessieren sich für die Kunst des Aphorismus, für Lichtenberg, vielleicht auch für Canetti, wenn man Janssens metaphysische Auflehnung gegen das Dogma des Todes bedenkt. Die Gedichte von Osten entschlüsseln das künstlerische Weltbild des Malers Horst Janssen, dessen Illustrationen zu dem Gedichtband wiederum erlauben, besser und tiefer als kritische Kommentare, den Sinn dieser Lyrik zu begreifen.
Osten operiert sehr sparsam mit Emotionen, er bleibt in seinen Gedichten ein wahrer Diplomat der Wörter, ähnlich wie der ihm geistesverwandte Peter Handke, überlegt er sorgfältig den Sinn, den Ton und die Farbe der Wörter, bevor er sie in seinen privaten Dialog mit der Realität einsetzt. Die Literaturkritiker führen diese enthaltsame Überlegung bei lyrischen Entscheidungen, die nur wenigen künstlerisch reifen Autoren, um an Goethe zu erinnern, eigen ist, auf die Begegnung des Autors mit der Kultur des fernen Ostens - Konfuzius, Buddha, die hohe Kunst der Haiku-Dichter, zurück. Es trifft sicherlich zu, was die Rezensenten sagen, aber Manfred Osten bleibt im Innersten ein sensibler Künstler und ein Denker, der mit präzisen Wörtern den Abgrund der Wahrheit auszuloten sucht. Von der Suche nach der Wahrheit kommt auch Manfred Ostens Vorliebe für das Motiv des Wanderers und sein Interesse am Baum, der Versinnbildlichung der Weisheit und der menschlichen Sünde. Am Gedicht "Der Baum der Reisenden", das den Titel dem ganzen Sammelband gegeben hat, erkennt man deutlich, daß Osten gleichermaßen ein Lyriker der Natur und der Kultur bleibt. Hier geht er sicherlich den Spuren seiner großen Vorbilder wie Goethe, Rilke, vielleicht auch Hofmannsthal, sicherlich Eich nach. Im dichten Gewebe der Kulturzeichen, aus denen die Gedichte Ostens zusammengesetzt werden, bilden die Assoziationen an große Künstler wie Kafka, Dostojewski, Mozart, Schumann eine ständige ethische Herausforderung. Manfred Osten, ein Diplomat, Politiker, Generalsekretär einer großen Stiftung, ein Mensch mit einer geregelten und gut organisierten Biographie, schwärmt in seinen Gedichten für Künstler des Unglücks. Erschütternd ist in diesem Zusammenhang sein Gedicht an Robert Schumann, einer Gestalt, für deren Popularisierung Osten eine ganze Menge als Vorsitzender der Bonner Schumann-Gesellschaft geleistet hat. In diesem Text geht es aber nicht so sehr um die Erinnerung an den großen Musiker, der Autor versucht vielmehr in die existentiellen Gründe seines Zusammenbruchs einzudringen, denn er vermutet darin eine Gefahr zu entdecken, die jedem künstlerisch tätigen Menschen droht. Die Gedichte Ostens bewegen sich programmatisch an den Grenzzonen der Metaphysik, ohne doch in diese einzutauchen, davor bewahrt den Dichter seine rationale Haltung. Er kann sich für ein Detail faszinieren, er ist imstande, das menschliche Unglück zu verstehen und in existentieller Not zu helfen. Es ist sehr viel für ein poetisches Programm des versierten Diplomaten der Wörter. Und deshalb ist es sinnvoll, sich mit seinen Gedichten eingehender zu befassen, wenn man über sie nachdenkt, denkt man im Grunde über sich selbst nach, über die Quellen der eigenen existentiellen und kulturellen Identität.
Bonn, März 1995
Stefan H.Kaszyński